Sich selbst vergeben. Was löst dieser Gedanke in dir aus?

Hast du ihn überhaupt schon einmal in Erwägung gezogen?

Oft bitten wir andere um Verzeihung. Wenn wir einen Fehler gemacht haben, der dem anderen das Leben etwas schwerer macht oder ihn einfach nur frustriert. Du kommst am Flughafen an und hast den Reisepass vergessen, kannst die Reise erst einmal nicht antreten. Wer mit dir zusammen reisen wollte, kann sich entweder allein auf den Weg machen und irgendwo in der Ferne auf dich warten, oder mit dir zusammen teuer umbuchen.

Dann hast du vielleicht noch etwas Unpassendes gesagt, was du hinterher bereut hast. Am Ende ist alles, was du möchtest, eine gute Zeit und im besten Fall bittest du den anderen um Entschuldigung.

Warum ist es wichtig, dass du dir dabei auch selbst auch verzeihst? Weil das, was du getan hast, zum Beispiel das Vergessen von etwas, und das, was du gesagt hast, nicht das ist, was du im Kern deines Wesens bist. Weil es dazu gehört, dass man sich über sich selbst ärgert, wenn etwas nicht nach Plan läuft und unpassende Worte oder der vielleicht sogar die richtigen Worte im falschen Ton rausrutschen.

Aber wichtiger ist es, dass dieser Moment der Selbstanklage und des Ärgerns nicht zu deiner Einstellung dir selbst gegenüber wird, die wie ein schwerer Stein an deiner Halskette hängt und dich ein Leben lang nach unten zieht. Wichtiger ist, dich wieder zu erinnern, dass du dich als Mensch bedingungslos selbst liebst und annimmst. Mit all deinen Fehlern. Fehler macht man, aber du bist nicht der Fehler. Mit all den damit verbundenen Emotionen. Ärgern, wütend, traurig sein, auch das gehört dazu, zum Mensch-Sein. Am Ende steht aber die Liebe, die Selbstliebe, das Annehmen von allem, was du bist und was dich ausmacht.

Und wie sieht es aus, wenn du auf der anderen Seite stehst, dir Unrecht getan wurde?

Sich dir gegenüber jemand im Ton vergriffen hat? Du jemanden dabei erwischt hast, über dich zu lästern?

Die Antwort darauf ist nicht ganz so offensichtlich. In der Tat war es vor ein paar Jahren so, dass ich gar nichts mehr verstanden hatte, als mir vorgeschlagen wurde, in so einer Situation die Verantwortung für mich zu übernehmen und nicht nur den anderen, sondern mir zu selbst vergeben. Die anderen bauen Mist und ich soll jetzt an mir arbeiten? Geht es noch?

Zu meiner Misere damals kam also noch dazu, dass ich an der Sache, die mir widerfahren war, mit schuld sein sollte. Und das hat mich dann so richtig aufgeregt. Schließlich hatte ich mir nichts vorzuwerfen. Nun ja, nicht ganz.

Heute würde ich diesen Hinweis wohl jedem ans Herz legen, der mich in meiner Praxis aufsucht. Zu einem gilt es zu unterscheiden zwischen Schuld und der Übernahme von Verantwortung. Schuld ist ein schweres Konzept, welches in unserer Gesellschaft und Kultur eine lange Tradition hat. Unser innerer „Schuld“enberg ist im Laufe der letzten zweitausend Jahre stetig angewachsen, und zwar so sehr, dass sich so mancher von uns schon allein für seine Existenz „entschuldigt“. Aber dazu mehr in einem anderen Artikel.

Bei der Verantwortung sieht es schon anders aus. Diese zu übernehmen ist allein deshalb nicht so selbstverständlich, weil sie ständig mit Schuld verwechselt wird. In dem Wort selbst liegt aber wörtlich die Antwort – VerANTWORTung. Und gemeint ist damit unter anderem, wie ich mit dem, was mir widerfahren ist, umgehe, wie meine Antwort ist. Bin und bleibe ich ein Opfer der Situation? Mache ich aus dem Opfer-Sein sogar meine Identität?

Kommen wir auf das Beispiel zurück mit dem Lästern. Irgendjemand behauptet hinter deinem Rücken Dinge über dich. Es kann zum Beispiel sein, deine Beziehung ging gerade in die Brüche und jemand, der selbst nicht glücklich mit sich ist, bespricht sich in seiner Gruppe treuer Gefolgsleute, mit denen du möglicherweise sogar selbst befreundet warst, dass du nicht in der Lage warst, grob gesagt zu blöd, diese Beziehung zu führen. Jahre später wirst du froh sein, dass alles so gekommen ist, aber in diesem Moment ist es das Letzte, was du gebrauchen kannst, und es macht dich wütend, fassungslos, traurig.

Hätte jetzt jemand im selben Szenario behauptet, er hätte dich letztens bei 33 Grad Hitze einen grünen Wintermantel tragen sehen, ginge es dir vielleicht anders. Weil es einfach Unsinn ist.

Im zweiten Fall bist du dir absolut sicher, dass es nicht stimmt und zweifelst an der Wahrnehmung des anderen. Im ersten Fall bist du aufgebracht. Warum? Weil ein unbewusster Teil von dir glaubt, an der Sache könnte etwas dran sein. Der andere hat also etwas angesprochen, was du unbewusst über dich selbst denkst oder befürchtest, du fühlst dich ertappt und gesehen, bloßgestellt.

Und das ist der Teil, mit dem man sehr gut in die Vergebung einsteigen kann:

  • sich vergeben, so reagiert zu haben auf das Gesagte
  • sich vergeben, dass man sich selbst herabwürdigt, die Beziehung nicht erfolgreich fortgeführt zu haben, versagt zu haben
  • sich verzeihen, dass man den Lästerer „brauchte“, um sich darüber bewusst zu werden, dass man sich als Versager fühlt
  • sich vergeben, dass auch das Ende einer Beziehung ein unglaubliches Lernpotential über sich selbst innehat, welches man noch nicht sehen kann
  • sich vergeben, dass man sich selbst aufgibt und nicht mehr in der Lage fühlt, je wieder eine Beziehung zu führen
  • sich vergeben, sich nicht liebenswert zu finden…

Die Möglichkeiten sind so zahlreich wie die verschiedenen Emotionen und Gedanken, welche dich in dieser Situation bewegen und die vor allem eines tun – dich daran hindern, nach einer Phase der Trauer und des Loslassens weiterhin dein Leben zu führen, in der Freude und mit neuem Glück.

Das ist der für mich einzig Sinn der Selbstvergebung

Raus zu kommen aus der Selbstanklage, den Schuldgefühlen und der Scham. Die Vergangenheit loslassen mit den verbundenen Emotionen, der Wut, dem Ärger, der Trauer, der Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, in denen man sich ständig wie im Kreis dreht.

In der Lage zu sein, das Wertvolle für sich mitzunehmen: die gewachsene Lebenserfahrung, ein bisschen mehr Weisheit, eine große Portion Selbsterkenntnis und die Erinnerung an die schönen Momente, von denen der Lästerer möglicherweise träumt.

So gesehen kann ich mir mein Leben ohne meine Rituale der Vergebung und Selbstvergebung nicht mehr vorstellen.

Kannst DU dir das auch vorstellen?

Warum?

Warum nicht?

© Peggy Vogt 2023