Vor einiger Zeit las ich einen Artikel zum Thema Vergebung, der mich sehr nachdenklich stimmte. Nachdem ich selbst im Laufe meines Lebens durch einige prägende Höhen und Tiefen gegangen bin und die Stadien von Wut, Verzweiflung, Ohnmacht, Rache und Trauer ausgiebig kennen lernen durfte, habe ich letztlich einen Weg gefunden, Schritt für Schritt Ruhe und Gelassenheit in bestimmte bedrückende Erfahrungen und die dazu gehörigen Erinnerungen zu bringen und die entsprechenden Gestalten zu schließen. Und dieser Weg ist die Vergebung.
Der besagte Artikel war eine leidenschaftliche Abhandlung darüber, warum Vergebung keine Lösung sei, sondern die Ursache neuer, unlösbarer Probleme und warum es also keine gute Idee sei, zu vergeben. Dabei wurde der Begriff Vergebung leider weder definiert noch gängige Definitionen in Frage gestellt. Es wurde auch nicht unterschieden zwischen objektiven Verletzungen (die das Wohlergehen des Betroffenen negativ beeinträchtigen durch die Bedrohung seines Lebens bzw. der Lebensgrundlage) und subjektiven Verletzungen (bei denen vor allem Ego-Konzepte über das Leben in Frage gestellt werden). Bleiben wir bei den Gründen, die gegen jede Vergebung zu sprechen scheinen:
Derjenige, von dem die Verletzung ausgeht, wird durch die Vergebung ent-schuldet. Das Opfer bleibt zurück mit der Verletzung und schlimmstenfalls mit der Umverteilung der „Schuld“ zurück auf seine Schultern. Dadurch entsteht das gleiche empfundene Machtgefälle wie zuvor bei der Verletzung und manifestiert sich für die Ewigkeit. Der Täter wird dazu vom Opfer von seinem schlechten Gewissen befreit. Dies wiederum leistet möglicherweise neuen Verletzungen Vorschub, da der Täter auf eine erneute Vergebung hoffen darf. Für gewisse Zeit kann sich das Opfer mit der Idee der moralischen Überlegenheit über Wasser halten, die sich aus der Vergebung ergibt, einer vermeintlichen Stärke. Dabei finden die Gedanken bezüglich eines geschehenen Unrechts, Wut und Verzweiflung keinen Platz mehr, sie werden zugunsten dieser Idee von Vergebung verdrängt und es kommt zunehmend zu inneren Spannungen im Menschen. Zusätzlich zur Angst vor der Wiederholung. Der Teil, der moralisch überlegen erscheint, vielleicht auch der Teil, der tatsächlich vergeben und einfach nur wieder inneren Frieden möchte, ringt mit dem Teil, der seine schweigende Zustimmung zur „Tat“ gegeben zu haben glaubt.
Handelt es sich bei den „Tätern“ um Eltern, wird die Lage laut Artikel noch schwieriger. Wenn ehemalige Kinder ihren Eltern vergeben (sollen), entsteht oft der Eindruck, sie dürfen ihre Eltern nicht so wahrnehmen, wie sie wirklich waren (und zum Teil noch sind) und die damit verbundenen Emotionen auch nicht zulassen. Real erlebtes eigenes Leid wird rationalisiert und mit den Leidensgeschichten der Eltern in das Licht der „Erwachsenensicht“ gerückt, was nicht nur bei diesen Betroffenen oft als Rechtfertigung der Verletzung ihnen gegenüber erlebt wird. Ohnehin oft von schweren Schuldgefühlen von Kindheit an geprägt, kommt es durch das Zurückstellen der mit den Erlebnissen verbundenen Emotionen noch zu einem gefühlten Verlust der eigenen Authentizität. Die Vergebung wird als Ziel und Ausweg zwar angeboten, aber als moralische Pflicht erlebt. Mitleid mit den Eltern und deren erlittenes Leid wird zur moralischen Pflicht. Das Aufgeben der eigenen Identität als Kind wird zur moralischen Pflicht. Die eigenen Stimme verstummt nach außen und im Inneren eines Menschen entwickeln sich widersprechende und ungehörte Dialoge. Vergebung wird als Instrument der Verdrängung erlebt, als Ablehnung sich selbst gegenüber. Und deshalb kommt Vergebung nicht in Frage.
Diese Abhandlung hat mich sehr berührt, denn zum Teil konnte ich einzelne Gedanken gut nachvollziehen, was mich aber nachdenklich machte war die Vorstellung, dass den Menschen, die das schrieben und so erleben, der nach meiner Sicht wirklich einzige Ausweg verwehrt blieb: Tatsächlich die Vergebung, wie ich sie verstehe. Doch es gab auch eine positive Erkenntnis: Dass die Betroffenen mit DIESER Art von Vergebung nichts anzufangen wussten, war schon der erste Schritt zu mehr Heilung… Der erste Schritt in die Freiheit…
„Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd!“ (Lukas 6, 29).
Die viel verbreitete Idee, was Vergebung sein soll, leitet sich zum großen Teil aus den Interpretationen der Bibel ab. Es geht dabei immer um den Gedanken, dass „dem anderen“ eine Schuld vergeben wird. Das hat mehrere Dinge zur Folge. Zum einen hängt die Vergebung der eigenen Schuld(gefühle) davon ab, ob sich jemand im Außen bereit erklärt, das für einen zu tun. Notfalls projiziert man diese Vorstellung auf eine höhere Macht, die alles vergibt, was oft an Bedingungen der Wiedergutmachung geknüpft ist, verbunden mit einem hohen Unsicherheitsfaktor, diese Bedingungen auch erfüllt zu haben. Im alltäglichen zwischenmenschlichen Dasein kann man sich damit beruhigen, dass die ganze eigene Lebensgestaltung eine einzige Entschuldigung für die eigenen vermeintlichen Sünden ist, der man seine Bedürfnisse und Wünsche unterwirft. Zum anderen liegt der Gedanke nahe, dass man selbst die Macht hätte, jemanden zu entschulden oder aber ihn mit seiner Schuld allein zu lassen und abzustrafen.
Wer es nicht so direkt mit der Bibel hält, aber trotzdem an den Auswirkungen des klerikalen Syndroms festhalten möchte, d. h. der meiner Ansicht nach lebens- und lustfeindlichen Philosophie der patriarchal geprägten Religionen, kann auch in andere spirituelle Konzepte flüchten und sämtliche Geschehnisse im Außen einfach als Spiegel seiner selbst interpretieren. Dann hat man gar den Täter und seine Tat selbst herbei gerufen mit den schrägen Konstellationen seiner eigenen inneren Landschaft. Auch diese Situation durfte ich schon oft erleben. Esoterisch bewanderte Menschen, die schon einmal vom Gesetz der Anziehung und Resonanz gehört hatten, sahen sich unterschwellig plötzlich als Opfer der inneren Einstellung eines anderen Menschen und überschritten bar jeden eigenverantwortlichen Handelns die Grenzen des zivilen Zusammenseins. Vergebung war hier dann sozusagen eine spirituelle Pflicht desjenigen, dessen Grenzen überschritten wurden, denn schließlich konnten die Menschen im Außen nichts für die innere Einstellung ihres Gegenübers, womit sie ihre eigenen Handlungen rechtfertigten. Ein einfacher Rollentausch zwischen Opfer und Täter also, was bei den Betroffenen oft noch große Verwirrung und – wieder Schuldgefühle – hinterlässt, das Konzept nicht verstanden und das grenzüberschreitende Verhalten anderer Menschen irgendwie bewirkt zu haben.
Man kann das Ganze auch noch weiter treiben und unsere alltägliche Realität einfach zur Illusion erklären. Dann ist nichts mehr wirklich existent. Dann gibt es weder Täter noch Opfer, folglich auch keine Verletzungen mehr und die eigenen Wahrnehmungen, Gedanken und die entstehenden Emotionen sind im Grunde nur Konstrukte des eigenen Egos, welches dringend überwunden werden muss. Dann hat man die Welt und alles was in ihr passiert einfach nur erfunden. Die Vergebung hier ist dann eine Art heilige Pflicht, seinen Brüdern und Schwestern die Hand zu reichen und somit seinen Teil für die Einheit und Heilung allen Seins und aller Wesen beizutragen. Eine Tatsache, die man vorher aufgrund seines Egos nicht gesehen hat. Als Grundlage dienen hier wohl die spirituelle Idee von Maya (d.h. die Welt ist eine Illusion) und der Erleuchtungsgedanke. Was dabei leider oft übersehen wird ist die Tatsache, dass die Schöpferkraft uns diese Welt und unseren freien Willen zur Verfügung gestellt hat, damit wir das Leben in seiner Vielfalt erfahren und gestalten und vor allem annehmen und lieben lernen. Dabei hilft die Vergebung. Dies wiederum ist die Voraussetzung für die spirituelle Weiterentwicklung der Persönlichkeit und spirituelle Erleuchtungsmomente. Es geht also um die Annahme der Realität und nicht deren Verdrängung.
Wer mit diesen Ideen von Vergebung also nichts anfangen kann und für den sich das Hier und Jetzt als sehr real anfühlt, für den ist das Nicht-Vergeben oft eine Rebellion gegen den Täter, die Auflehnung gegen ihn und was er getan hat, das NEIN. Wer von offener Rache absieht, kann das Nicht-Vergeben als Strafe für den Täter ansehen und als vielleicht einzigen Weg, das einstige Opfer-Täter-Machtgefälle wieder auszugleichen. „Das verzeihe ich niemals!“ Und diese Idee beruht auf der biblischen Vorstellung, dass Vergebung FÜR oder DURCH jemanden im Außen geschieht. Was zu der Frage führt, gegen wen die Auflehnung und die Emotionen wie Wut laufen, wenn derjenige gar nicht mehr da ist oder die Tat schon lange her ist. Vielleicht hat der Täter auch gar kein schlechtes Gewissen, was man ihm dann durch das Vergeben auch gar nicht nehmen kann. Soziopathen kennen keine Schuldgefühle… Wer frei ist von Schuldgefühlen, den kann man auch nicht ent-schulden…
Was also tun? Was tun, wenn man die Verdrängung durchschaut, die Opfer-Täter Verdrehung nicht länger hinnimmt, sich nicht meditativ irgendwohin zurück ziehen und die erfahrbare Realität zur Illusion erklären kann und will? Was tun, wenn uns im Außen niemand vergibt und uns unsere Schuldgefühle scheinbar abnimmt, falls wir jemanden bewusst oder unbewusst verletzt haben? Und wenn derjenige, der uns verletzt hat entweder nicht mehr da ist oder auf eine Ent-Schuldung und Befreiung von einem schlechten Gewissen unsererseits mit Gleichgültigkeit antwortet?
Bei der Art von Vergebung, die ich bevorzuge und für die einzig glaubhafte, konkret umsetzbare Option halte, geht es vor allem um uns selbst. Darum, unsere emotionale Gebundenheit an das Thema der Verletzung, die Person oder das Geschehene zu lösen und unsere Energien konstruktiv für unser weiteres Leben einzusetzen. Das Vergeben, das Loslassen, das Schließen der Gestalten (d. h. emotionaler Prozesse, die uns erst dann keinen Stress mehr bereiten, wenn sie durch die Stadien „Anfang – Mitte – Ende“ gegangen sind) schenkt uns Freiheit. Die Freiheit besteht auch darin, sich von dem Gedanken zu lösen, dass da draußen jemand ist, der uns vergeben kann, wenn wir selbst etwas Verletzendes getan haben, damit es uns besser geht. Das können wir nur selbst und es ist auch gut so. Uns selbst zu vergeben ist ein sehr wichtiges Instrument, unser Leben wieder in die Hand zu nehmen und zu gestalten, wieder in eine gesunde Beziehung zu uns selbst, unseren Mitmenschen und unserer Umwelt zu treten. Wir können im Außen nur zeigen, dass uns etwas leid tut, wirklich vergeben können wir nur uns selbst. Wenn uns jemand um Verzeihung bittet, können wir nur entscheiden, ob wir akzeptieren, dass es dem anderen leid tut und ob wir eine Beziehung jedweder Form mit dem anderen weiter führen möchten. Vergebung ist also weder Vergessen noch Versöhnung!
Bleibt man hingegen bei seiner Wut, seinem Hass, bei dem sich daraus unter Umständen entwickelten Selbsthass und der Selbstverletzung, wird man möglicherweise krank und entlädt seine Emotionen bei menschlichen Stellvertretern desjenigen der uns verletzt hat, im schlimmsten Fall bei seinen eigenen Kindern, den Angestellten auf Arbeit oder anderen Beziehungspartnern. Man bleibt weiter in der Opferrolle von einst gefangen und versucht die damals empfundene Ohnmacht durch neukonstruierte Machtgefälle auszugleichen, die man jetzt unter Kontrolle zu haben glaubt. Dabei bindet man sich selbst immer weiter an den einstigen Täter, man bleibt in der Gewalt seiner physischen und/oder psychischen Gewalt, man leidet weiter und leitet die Gewalt weiter.
Wenn man aber diese Gewalt nicht weiter akzeptieren möchte, ins Hier und Jetzt kommen will, in welchem man für das Echo des Täters und seiner Tat nicht mehr erreichbar ist, lohnt es, sich mit dem Konzept von Schuld und Zuständigkeit auseinander zu setzen. Schuld ist ein Bemächtigungsprinzip. Wenn jemand die Schuld trägt, hat er die Macht, Situationen und Geschehnisse zu verursachen, egal wie weit weg und wie lange diese her sind. Frage dich also immer, ob du demjenigen, dem du für eine gegenwärtige Situation die Schuld gibst, tatsächlich diese Macht zugestehen möchtest? Oder, falls du selbst große Schuldgefühle haben solltest, ob du tatsächlich so mächtig warst und bist?
Anders ist es mit der Zuständigkeit. Sie ist ein Ermächtigungsprinzip. Sie gibt uns Handlungsmöglichkeiten, hier und jetzt auf unser Leben und seine Geschehnisse zu antworten, denn dafür sind wir – und nur wir – selbst verantwortlich. Wenn wir das von Herzen anerkennen, sind wir in der Lage, unser Leben selbst zu bestimmen und uns nicht länger von sogenannten negativen Emotionen leiten zu lassen, die uns immer wieder an die Vergangenheit binden. Das Nicht-Vergeben ist eine Entscheidung gegen das Hier und Jetzt und die Möglichkeiten, die uns das Leben bietet. Es ist eine ständige Ablehnung gegen den Täter, gegen die Tat, das schon oben erwähnte Nein, eine ständige Beschäftigung mit und die Ablehnung der Vergangenheit.
Das Ziel der Vergebung, wie ich sie verstehe und wie ich sie für funktionsfähig halte, ist, statt den Schuldgefühlen die Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen, sich selbst wieder für zuständig zu erklären. Es geht darum, aus der Ohnmacht heraus zu kommen und sich wieder zu ermächtigen, sein Leben im Sinne des eigenen Seelenweges zu gestalten und seinen individuellen Weg zu gehen. Statt weiterhin Opfer zu sein, nun ein unabhängiges, erfüllendes Dasein zu führen. Bei dieser Art von Vergebung geht es auch darum, zu lernen Grenzen zu setzen. Zu erkennen, dass Versöhnung sein kann, aber nicht sein muss. Erst, wenn du JA zu deinem weiteren Leben sagst, kannst du auch NEIN sagen und diese Grenzen ziehen. Es geht auch darum, die Emotionen, die durch die Verletzung entstanden sind, anzunehmen, zuzulassen und letztlich loszulassen und auch dazu bedarf es wieder eines Ja – zu den Emotionen.
Biete dir das Geschenk der Vergebung an und du entscheidest dich für dein Leben. Diese Entscheidung liegt bei dir und kann dir zwar niemand abnehmen, aber man kann sie dir auch nicht wegnehmen. Auch wenn der Verstand vieles logisch finden mag, so sitzen im Unterbewusstsein oft noch tiefe Glaubenssätze, die an den Konzepten der Schuld und Schuldgefühle, der alten Ideen von Vergebung festhalten und in Belastungssituationen anfangen, dein Denken und Verhalten zu steuern, eine Art Hijack der Vergangenheit. Nach meiner Erfahrung hilft hier eine wirklich effektive spirituelle Energiearbeit, wie zum Beispiel die Kanseya® Shay’nar. Diese Art der Meditation verbunden mit Energiearbeit hilft, diese unbewussten Muster aufzulösen. Voraussetzung ist aber deine Entscheidung für dich, für dein Leben, für neue und schöne Erfahrungen.
Trinke nicht weiter das Gift der Vergangenheit und warte, dass der andere vielleicht tot umfällt. Lass das Geschehene dort stehen und gehe weiter DEINEN Weg. Hier und jetzt und immer weiter.
Toller Artikel, danke.
Sehr gut auf den Punkt gebracht.
Vielen Dank liebe Doris ;-)
Wunderbarer Artikel!
Weiter so!!
Vielen Dank, es freut mich, dass der Artikel Dir gefällt und weiter hilft. Es geht auch bald weiter … ;-)
chere Peggy,
leider konnte ich noch nicht den ganzen text lesen,aber ich bin nicht stimmig mit ihrer
meinung,dass derjenige,der verzeiht ein opfer ist.Er befreit sich auch einer last,zum
beispiel nachtragend zu sein.Sonst wuerde er nicht verzeihen.Es erleichter einen,
wenn man verzeiht und ist keine last oder ein opfer.
alles liebe marianne huguenin
Vielen Dank für Dein Feedback liebe Marianne :-) Es lohnt sich, den Text zu Ende zu lesen, denn genau darauf gehe ich ein. Der Gedanke, dass sich jemand als Opfer fühlt, wenn er verzeiht, ist übernommen aus einem anderen Artikel, der mich inspiriert hat, weiter über dieses Thema nachzudenken und dieses näher zu beleuchten. Denn dieser Gedanke und die damit verbundenen Emotionen halten manchen Menschen davon ab, wirklich zu verzeihen. Es freut mich sehr, dass Du damit nicht konform gehst :-)